Nachts sind alle Katzen grau, heißt es lapidar. Wenn aber die Nacht ihre schwarze Decke lüftet, wenn ein neuer Tag das Gestern zum Heute macht, dann wird alles sichtbar, was das Dunkel der Nacht den Blicken für ein paar Stunden entzogen hat. Gutes und Schlechtes. Dann begegnen sich flüchtig Reichtum und Armut. Dann gehen die Gutbetuchten an denen vorüber, die sich aus ihrem Pappkarton schälen und die frostige Nacht aus ihren Knochen schütteln. Und während die einen im Warmen ihren Espresso genießen, holen sich die anderen einen Schluck Wärme aus der Flasche, in der der Tod lauert.
Dem drohenden Entzug entfliehen, die Vergangenheit töten und von einem anderen, besseren Leben träumen, das ist ihr Luxus, ihr Reichtum im Angesicht ihres Elends.
Und wenn nichts mehr geht, dann halten sie bettelnd ihre zitternde Hand denen entgegen, denen es besser zu gehen scheint, um auch diesen Tag zu überleben. Ein Leben von Minute zu Minute. Immer hoffend auf ein Wunder. Und so wechseln Tag und Nacht immer auf die gleiche grausame Weise, bis zur Erlösung durch medizinische Hilfe oder durch den Tod.
Niemand sollte sich über diese Menschen erheben und sie von oben herab als Säufer bezeichnen. Sie sind krank. Und diese Krankheit macht keinen Unterschied zwischen arm und reich. Sie hat ihre Opfer schneller im Griff als vermutet und macht sie letztlich immer zu ihren Sklaven. Ich kenne Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, gestern noch in Familie, Beruf und Verantwortung, heute zum Heer derer gehörend, die mit der Flasche in der Hand und dem Kainsmal auf der Stirn dahinvegetieren. Viele haben es nicht geschafft, sind verreckt.
Denen gelten besonders meine Gedanken. Gerade in der Kälte des Winters denke ich an die, die noch oder die immer unterwegs sind, ohne jemals anzukommen.
Jürgen Engelmann
Febr. 2020























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