
Die unsichtbare Macht
Es gibt etliche Dinge im Leben, die dem Menschen Respekt einflößen. Eingeschweißte Batterien zum Beispiel oder Lebensmittelmotten, auch eine Mücke im Schlafzimmer.
Das alles sind berechenbare Größen, denen wir gewachsen sind, mit denen wir fertig werden, auch wenn sie uns nicht immer gefallen.
Doch es gibt eine Macht, die von vielen Menschen gefürchtet ist, die unsichtbar ist, aber permanent anwesend, so, als lauere sie Tag und Nacht immer dort, wo etwas im Argen zu sein scheint. Immer ein Auge auf das, was wir gerade tun. Und wehe, wir geben uns keine Mühe, sind unordentlich oder achten gar auf unser Äußeres nicht. Dann droht die unsichtbare, gnadenlose Instanz uns wieder auf Trab zu bringen. Diese, von vielen Menschen so gefürchtete Macht, sind „Die Leute“. Ich höre meine Mutter noch hinter mir herrufen: „Zieh dich doch mal ordentlich an, was soll’n denn die Leute von uns denken!“ Niemand weiß genau zu sagen, wer das ist, „Die Leute“. Das können die Nachbarn sein, das kann der Lehrer sein, auch der Frisör. Alles Leute denen üble Nachrede zugetraut wird. Leute, die es vermeintlich darauf absehen, unseren guten Ruf zu zerstören. Sie sind da und sie sind eine mutmaßlich ständige Bedrohung für die, die neben der Herde laufen.
Damit einher geht die Angst, sich zu blamieren und an Ansehen einzubüßen. Aber nicht bei den „Übeltätern“ selbst, sondern bei denen, die sich der „Leute“ als Drohmittel bedienen.
„Hermann, wisch doch bitte nochmal über deine Schuhe, was soll’n denn die Leute von uns denken.“ Oder: „Du könntest auch mal wieder dein Fahrrad putzen, Erwin, was soll’n denn die Leute von uns denken.“
Wenn „Die Leute“ wirklich etwas denken würden, dann über Hermann oder Erwin. Aber die Frau sagt, was soll’n denn die Leute von UNS denken und meint damit im Grunde, was soll’n sie denn von MIR denken, meinen Mann so in die Öffentlichkeit zu lassen.
„Die Leute“, das ist so eine Art fiktives Ordnungsamt für Privatangelegenheiten. Ein funktionierendes System, zu dem man ja selbst auch gehört. „Haste den Hermann gesehen, was der für schmutzige Schuhe an hat, dass seine Frau das nicht sieht?“
Alles hinter vorgehaltener Hand, alles hinter den Gardinen, alles ins Weltall geblasen, nie bei der Person ankommend, die gemeint ist. Und gerade deshalb haben „Die Leute“ eine so ungeheure Wirkung. Das bestätigt auch der oft gehörte Ausspruch: „Wir sind doch anständige Menschen. Wir lassen uns das nicht nachsagen.“
Doch wer weiß, vielleicht würden ohne „Die Leute“, die Schuhe und das Fahrrad gar nicht mehr geputzt, die Straße nicht gekehrt oder die Dauerwelle nicht jede Woche runderneuert werden.
Mir drängt sich der Eindruck auf, dass „Die Leute“ mehr Einfluss auf das Verhalten vieler Menschen haben, als Gesetze und Vorschriften. Für viele Menschen ist es wichtig, dass „Die Leute“ gut über sie denken und reden.
Im Grunde sind „Die Leute“ doch gar keine schlechte Sache für die, die sich der „Leute“ bedienen. Eltern, um ihren Kindern ein schlechtes Gewissen zu machen, Menschen, die in den Augen anderer Menschen gut dastehen möchten, Leute, denen Äußerlichkeiten wichtig sind. Früher hieß es, wenn du nicht spurst, kommst du in die Hölle. Heute heißt es, wenn du nicht spurst, kommst du ins Gerede. Aber auch: Wenn ich selbst nicht spure, komme ich ins Gerede. Das Eine so wirkungsvoll und wirkungslos, wie das Andere. Den meisten Menschen ist es doch völlig Wurscht, was „Die Leute“ über sie denken. Sie machen ihr Ding und fertig. Vielleicht ist das auch besser so.
Jürgen Engelmann, Febr. 22























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